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Sozialer Streik – von Nicola (Berlin migrant strikers)

Auf unserer Fachtagung im März machte uns Nicola mit den sozialen Kämpfen in Italien bekannt, nachdem das Wort „social strike“ schon vorher zu uns geschwappt war (siehe auch http://www.basta.blogsport.eu, Eintrag vom 7.12.2014). Die Veröffentlichung ist verbunden mit einem herzlichen Gruß an ihn und die Berlin migrant strikers.

Die letzte italienische Arbeits(markt)reform – das Jobgesetz der Regierung des Ministerpräsidenten Matteo Renzi („JobsAct“) - ist jetzt (2015) schon verabschiedet. Sein Wirksam-werden folgt vier weiteren „Strukturreformen des Arbeitsmarkts“ in den letzten zwanzig Jahren, und zahlreichen Verordnungen, die Vertretungsrechte der Gewerkschaften betreffend, die Arbeitsvermittlung, Praktika und vorhandene „Puffer“ der sozialen Sicherheit. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit richtete sich auf die Tatsache, dass die neuesten „Reformen“ jedes Jahr ganz schnell geändert wurden, ohne sich um die betroffenen Tausende von Menschen zu kümmern, die damit sozial aufgegeben wurden, nämlich die, die noch arbeitslos sind, die ohne Zugang zu sozialer Absicherung sind, die ohne Rente sind. Vorwärtsgetrieben von den Diktaten der Troika an dabei immer dem Paradigma anderer Austeritätsprogramme[1] folgend, hat die italienische Mitte-links-Regierung die letzte Reform mit der politischen Rhetorik „Niemand soll mehr prekär leben“ verabschiedet. Dabei haben gerade sie doch „Prekarität für alle“ erreicht oder, besser gesagt, die Institionalisierung der (Lebens-) Unsicherheit. Auch stimmt diese „Arbeitsmarktreform“ total mit denen überein, die zur Zeit in Spanien oder Griechenland verwirklicht werden.

Im Sommer 2014, vor dieser kriminellen Reform der Arbeitsbeziehungen, wurde aber eine strategische Allianz geboren: Die Allianz des Sozialen Streiks. Die erste Schritte dieser Allianz begannen innerhalb eines fast tragischen nationalen Rahmens und mussten viele Zweifel beseitigen. Denn indem es Wohlfahrt und Prekarität zur selben Zeit gebiert, stellt das heutige postfordistische Zeitalter zwei Eingangsfragen an diese Allianz. Die erste ist, wie nur zeitweilig beschäftigte Arbeiter_innen einen Streik überhaupt als ein Kampfinstrument benutzen können. Die zweite ist, wie ein Weg gefunden werden kann, damit sich die Kämpfe der Arbeitenden, der Studierenden, der Prekären und der arbeitenden Armen sich zu einem Bündnis, einer Koalition, zusammenballen. Vielleicht kam diese Frage auf, weil die traditionellen Gewerkschaften es nicht schafften, dieses Bedürfnis zu befriedigen. So wurde zwar im vergangenen Dezember (2014) zu einem Generalstreik von nur vier Stunden aufgerufen, doch das war nur einmal seit 2008, dem Beginn der finanziellen und ökonomischen Krise. Oder vielleicht deswegen, weil zeitweise beschäftigte Arbeiter_innen keinerlei Schutz haben und weil die traditionellen Gewerkschaften unfähig sind, den kapitalistischen Umformungs-(oder Transformations-)prozess der italienischen Industrie von einer Industriegesellschaft hin zu einer „Dienstleistungsindustrie“ zu entziffern, ein Prozess, infolge dessen sich unsichere und prekäre Arbeitsverträge vervielfachten. Deshalb sind die Gewerkschaften Schritt für Schritt zu „Dienstleistern” geworden, sie repräsentieren nicht die Millionen prekär Beschäftigter, und sie unterschätzen den „Schwarzarbeits“markt, von dem geschätzt wird, dass er 10 bis 33 Prozent des italienischen Bruttoinlandsprodukts produziert (nach Schätzung des statistischen Amtes von Italien; ISTAT). Allerdings sind all diese Daten noch nicht mal nötig, um ein Licht auf die (offizielle) Arbeitslosenrate von ca. 13 Prozent zu werfen, die höchste Rate seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, mit dem Fokus auf die Arbeitslosenrate der Jugendlichen mit 46 %: In der europäischen Arbeitsmarktstatistik sind das so genannte NEET: Jugendliche unter 30, die nicht studieren, arbeiten oder einen Job suchen.

Die Allianz für einen sozialen Streik ist – wie gesagt - in diesem Zusammenhang geboren worden. Diese Allianz fasste antikapitalistische politische Identitäten und die Erfahrungen der sozialen Selbstorganisation des prekären Arbeitsmarktes zusammen, ebenso wie sie Teile der Gewerkschaften organissierte – darunter sehr wichtige und repräsentative, z.B. die FIOM [2], soziale Zentren, selbstorganisierte Arbeiter_innen im Logistikbereich und Migrant_innengruppen.

Am 14.11.2014 versuchte diese soziale Allianz, den ersten Sozialen Streik zu organisieren: In jeder Stadt, über das ganze Land verstreut, haben Menschen die Straßen blockiert, verweigerten sich der (Lohn-) Arbeit, gingen nicht hin, protestierten in Demos, bildeten Streikposten außerhalb der Fabriken. Neue Räume wurden besetzt, dies alles wurde verbunden mit eine Medienkampagne auf Facebook. In Italien gibt es 28 Millionen Internetzugänge (Internetaccounts), das ist für je zwei Menschen immer ein Zugang. Da der Streik 24 Stunden lang mit einer außergewöhnlichen Kontinuität dauerte, brach er den Konsens der Regierenden auf und brachte viel Ärger mit sich, so als sie mit Polizeimaßnahmen auf streikende Arbeiter_innen reagierten. Nachdem diese ersten positiven Resultate erreicht waren, hat sich die Allianz entschieden, „Laboratorien des sozialen Streiks“ in jeder Stadt zu gründen. Das sind Treffpunkte, an denen alle, die von Prekarität geknechtet sind, ihre eigenen Ideen und Erfahrungen in einer Umgebung austauschen können, begründet auf den Prinzipien einer kommunitären Organisation und der Gegenseitigkeit. Benannt sind diese Laboratorien auch so, um an die früheren „Häuser der Arbeit“ in der vorfaschistischen Periode Italiens zu erinnern.

Der Umfang dieser Koalition für einen sozialen Streik erlaubt es, die eigenen Aktionen nicht auf einen einfachen „Eingriff in die Produktion“, um sie zu stoppen oder zu zerstören, zu beschränken, und er gibt der Allianz die Möglichkeit, sich immer und wieder neu auf unterschiedliche Art zu erfinden. Das hängt vom jeweiligen Ort ab, von den jeweiligen Umständen in der Umgebung, und vom jeweiligen Kontext. Der grundsätzliche Charakter der Gegenseitigkeit (auf Augenhöhe) der „Sozialen-Streik-Laboratorien“ hat seinen Erfolg darin, dass Solidarität erprobt und etabliert wird und die Tatsache, die eigenen Erfahrungen miteinander auszutauschen und voneinander zu lernen. Durch dieses „Experiment“ nehmen sich die zeitweilig Beschäftigten und die arbeitenden Armen gegenseitig und als eine „Klasse“ wahr, weil sie das rhetorische System, die Mär vom dem/der „Selbstständigen“ (engl. self-made man) erschüttert haben – das Schlüssel-Paradigma auch der italienischen Form des Kapitalismus. Darüber hinaus hat die Allianz für einen sozialen Streik einen nationen-übergreifenden Aktionsplan vorgeschlagen, um ein umfassendes und bedingungsloses Grundeinkommen zu fordern: Italien und Griechenland sind die einzigen beiden europäischen Staaten, die kein wie auch immer gestricktes System für erwerbslose Menschen als Schutz besitzen, sowie eine allgemeine (zweijährige) Niederlassungserlaubnis, [3], welche nicht an die Arbeitssituation oder den Arbeitsplatz gekoppelt ist, einen branchenübergreifenden Mindestlohn, soziale Sicherheit und Steuergleichheit. Zu diesem Zweck auch die Forderung nach einer neuen Arbeitsmarktreform, die die Ungleichheit der vorherigen Gesetze und den Gebrauchswert nur für die Bosse überwindet und darüber hinausgeht. Das ist es auch, warum am 19. März 2015 die Allianz für den sozialen Streik sich bereit sah und sich mit all den anderen Arbeiter_innen, Erwerbslosen und arbeitenden Armen verbündete, um anzufangen, sich eine größere Front vorzustellen, die in der Lage ist, die Politik der Austerität zu bekämpfen, sowohl in ihrer neugestalteten autoritären Dimension zu herrschen und zu regieren als auch in ihren sozial-politischen Entscheidungen.

Fußnoten: [1] Wikipedia sagt dazu: Austerität (engl. austerity, von altgr. αστηρότης „Herbheit“, „Ernst“, „Strenge“) bedeutet „Disziplin“, „Entbehrung“ oder „Sparsamkeit“. Der Begriff wird heute vor allem in ökonomischen Zusammenhängen gebraucht und bezeichnet dann eine staatliche Haushaltspolitik, die einen ausgeglichenen Staatshaushalt über den Konjunkturzyklus ohne Neuverschuldung anstrebt (Austeritätspolitik).
[2] FIOM ist die Metallarbeitergewerkschaft innerhalb des Gewerkschaftsbundes CGIL, einer der größten in Nachkriegsitalien. Diesem wurde, obwohl unabhängig, oft die Nähe zur kommunistischen Partei unterstellt.
[3] Für Überraschung sorgte in europäischen Diskussionen die Forderung nach einer zweijährigen Niederlassungserlaubnis für alle Menschen in Europa, die von vielen italienischen Gruppen als Sofortforderung verstanden wird, von anderen Gruppen aber nicht als ausreichend angesehen wird.