04.10.2012
»Renitente weibliche Person«
Nachdenken über den Tod der Christy Schwundeck – Von Hinrich Garms und Helga Röller[*]
Der Tod einer Sachbearbeiterin im Neusser Arbeitsamt ist nicht der einzige Fall einer tödlich endenden Eskalation in einem Jobcenter, einem Kulminationspunkt am Ende einer Kette konflikthafter sozialer Verhältnisse.
Im Mai 2011 war Christy Schwundeck, »Kundin« des Jobcenters im Frankfurter Gallus-Viertel, auf dem Amt von einer herbeigerufenen Polizistin erschossen worden. Nach neun Monaten Ermittlung schloss die Staatsanwaltschaft die Akte Schwundeck im Februar 2012 und folgte damit der Aussage der Schützin, sie habe in Notwehr gehandelt.
Die Nebenkläger – der Ehemann und der Bruder der Getöteten – reagierten zwischenzeitlich mit Anträgen auf Klageerzwingung, über die vermutlich noch in diesem Jahr entschieden wird. Sollten diese Erfolg haben, würde ein Prozess eröffnet werden, der die Untersuchung der Umstände ihres Todes darlegen könnte. Insbesondere die von Christy Schwundeck verursachte Verletzung eines Polizeibeamten mit einem Messer sowie die Verhältnismäßigkeit des polizeilichen Waffeneinsatzes wären dann Gegenstand des Prozesses. Eine Bewertung der fachlichen Abwicklung des Anliegens von Christy Schwundeck wäre dagegen nachrangig – sie wollte den restlichen, ihr zustehenden Regelsatz als Barauszahlung, dies wurde ihr verweigert.
Der folgende Beitrag widmet sich anhand der Ermittlungsakte der Frage, welche sozialstaatlichen Konflikte in dem »Fall Schwundeck« zum Ausdruck kommen und zu der tödlichen Eskalation beitrugen.
Kurzfristig zerrte der gewaltsame Tod von Christy Schwundeck im Mai 2011 die emotionale Bedeutung von »Hartz IV« für die Betroffenen ans Tageslicht, zeigte aber auch zermürbende Reaktionen der Gesellschaft in Form von Schuldzuweisungen und Verleumdungen sowie die Verrohung des bürokratischen Apparates und die Verschränkung von staatlicher Gewalt, institutionellem und individuellem Sadismus. Die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft präsentiert sich vor diesem Hintergrund als ein Dokument des kalten Desinteresses an dieser Bürgerin. An einer Scharnierstelle, dort, wo staatliches Gesetz im sozialen Bereich umgesetzt wird, wurde es zur Aufgabe der Sicherheitsdienste und der Polizei, einen »Fall« durch Hausverweise bzw. die Durchsetzung eines Hausverbots zu ›lösen‹. Nicht ohne Grund sind in vielen Jobcentern der Bundesrepublik dauerhaft Sicherheitsdienste stationiert.
Unser Anliegen ist es, die Rückbildung und Deformation des Sozialstaates an dieser – zunehmend konfliktbeladenen – Schnittstelle zwischen MitarbeiterInnen von Jobcentern und LeistungsbezieherInnen zu beschreiben und begreifbar zu machen.
I. Eine existenzielle Notlage
»... ich bleibe hier, bis ich mein Geld habe«, »nur mit Geld gehe ich hier raus« (Christy Schwundeck lt. Ermittlungsakte, S. 183f.).
In ihrem Leben war Christy Schwundeck nicht auf Rosen gebettet: Aufgewachsen in Benin City in Nigeria, kommt sie Anfang der neunziger Jahren nach Deutschland, beantragt Asyl, erhält eine Aufenthaltsgenehmigung und schließlich 2009 nach gelungenem Einbürgerungstest (32 von 33 Punkten) die deutsche Staatsbürgerschaft. Ihr vorletzter Wohnort war eine bayrische Kleinstadt, Aschaffenburg, wo sie 2008 einen Deutschen geheiratet hatte. Trotz ihrer sehr guten Deutschkenntnisse arbeitet sie weiterhin nur in miesen Aushilfsjobs. Im Spätsommer 2010 trennt sie sich von ihrem Ehemann und ist anschließend auf den Bezug von Hartz IV angewiesen.
Im Frühling 2011 zieht sie, nach vorübergehendem Aufenthalt in Wiesbaden, in ein Wohnheim in Frankfurt am Main, beantragt dort Hartz IV und bittet um Unterstützung bei der Wohnungssuche. Kurze Zeit später findet sie einen Job als Küchenhilfe. Den Lohn für ihre Arbeit hat sie noch nicht erhalten, als sie sich erneut an das Amt wendet. Das überweist ihr am 17. Mai 10,26 Euro für den Monat – einen Betrag, den das Amt als Restanspruch für sie ausgerechnet hat. Doch am 19. Mai – der Tag, an dem sie erschossen wird – hat sie laut Ermittlungsakte »9 Cent« in der Geldbörse, »im Magen nur eine ganz geringe Menge einer sämigen, grünlich-bräunlichen Flüssigkeit«. Bei der Obduktion ergeben sich bei ihr keine Hinweise auf Drogen- und Betäubungsmittel.
In der letzten Stunde ihres Lebens wurde, so unser Eindruck nach der Lektüre der Akte, Frau Schwundeck Wahrnehmen und Einfühlen in ihre Not verweigert. Sie erscheint am 19. Mai gegen 8.30 auf dem Amt und trägt ihr Anliegen vor: Mehrere Zeugen, darunter auch der später gerufene Polizist, sagen aus, dass sie den restlichen Regelsatz gefordert habe und dies als Barauszahlung.
Doch die beteiligten Jobcenter-Mitarbeiter hören Frau Schwundeck offenbar nicht richtig zu und fragen auch nicht nach. So bleibt die – eigentlich naheliegende – Möglichkeit, dass der Unterhalt des Ehemannes lediglich auf dem Papier geflossen sein könnte und nicht wie im Hartz IV-Antrag angekreuzt, unbeachtet.
Dabei kannte sie ihre Ansprüche offenbar: Vom Jobcenter Wiesbaden, ihrem vorherigen Aufenthaltsort, hatte sie »für den Zeitraum Dezember 2010 bis April 2011 monatliche Regelleistungen in Höhe von 359 Euro (Dezember 2010) bzw. 364 Euro (Januar bis April 2011)« erhalten. (S. 329)
Wieso konnten beide Sachbearbeiter nicht genauer zuhören und der Frage nachgehen, warum sie so beharrlich auf diesem Geld bestand? Stattdessen wird um 8.52 Uhr bereits die Polizei verständigt, um sie aus dem Jobcenter zu verweisen. Weniger als eine halbe Stunde wurde ihr damit insgesamt zugestanden, um ihre Situation zu besprechen und ihr Anliegen zu klären. In der Ermittlungsakte finden sich dabei weder Hinweise, dass über die zu suchende Wohnung gesprochen wurde, noch dass ein neuer Termin verabredet wurde.
Auch gibt die Ermittlungsakte interessanterweise her, dass erst der Polizist Frau Schwundeck auf die Möglichkeit rechtlichen Beistands durch Anwälte und das Sozialgericht aufmerksam gemacht hatte – und nicht die Mitarbeiter des Jobcenters. Es liegt nahe, hier an Abstumpfung und das Konzept einer »Déformation professionelle« zu denken.
Was passierte dann? Laut Ermittlungsakte füllt sich das kleine Büro, in dem Frau Schwundeck wegen ihrer Mittellosigkeit sitzt und sich trotz und nach der ablehnenden Auskunft des Sachbearbeiters zu gehen weigert: Der Teamleiter kommt dazu, zwei Sicherheitsmänner werden gerufen, die Polizei kommt, irgendwann steht auch noch die Sachbearbeiterin aus dem Nachbarbüro in der offenen Verbindungstüre.
Es scheint, dass Christy Schwundeck in der letzten Stunde ihres Lebens einem enormen sozialen Druck ausgesetzt war. Diese Situation kommentiert und bewertet ein Blogeintrag wie folgt:
»Die Frau hat begriffen, dass sie in einer Notlage ist. Und da bleibt die Frau einfach da und geht nicht weg, bevor ihr geholfen wird. Dann kommt der Sicherheitsdienst und will sie raus haben, droht mit Hausverbot, baut Druck auf. Und da bleibt die Frau einfach da und geht nicht weg, bevor ihr geholfen wird. Dann wird die Polizei gerufen. Bis die Polizei da ist, dauert es. Der Sicherheitsdienst baut weiter Druck auf. Und da bleibt die Frau da und geht nicht weg, bevor ihr geholfen wird. Dann kommt die Polizei. Und da bleibt die Frau da und geht nicht weg, bevor ihr geholfen wird. Ich bewundere diese Frau.«
(www.initiative-christy-schwundeck.blogspot.com)
Die Akte stellt eine andere Perspektive auf die Situation dar: Um 9.01 Uhr treffen die gerufenen Polizeibeamten auf »eine renitente weibliche Person« (so der Polizeifunk laut Ermittlungsakte). Auf den Einsatz des mitgeführten Pfeffersprays, der u.E. die Situation seitens der Polizei deutlich hätte deeskalieren können, wird verzichtet. Stattdessen wird von der Schusswaffe Gebrauch gemacht.
Vergebens suchen wir in der Ermittlungsakte nach Ansätzen und Spuren von Einfühlung in ihr Anliegen, ihre Motive und Beweggründe und vor allem in den Gefühlssturm, in den Frau Schwundeck geraten sein muss. Wahrgenommen wurde offenbar nur eine abstoßende Gewalttat – das Steakmesser, das Christy Schwundeck aus ihrer Handtasche zog und der Angriff, den sie damit gegen den Polizisten ausführte. Eine mögliche These wäre, dass sich hier die ›professionellen‹ Deformationen von Langzeiterwerbslosen verschränken mit der »Déformation professionelle« von Behörden-MitarbeiterInnen.
Der Ehemann berichtet uns, seine Frau habe in den Jobcentern Aschaffenburg und Wiesbaden die Erfahrung gemacht, dass sie, nach geltender Rechtslage, eine Barauszahlung erhalten kann, wenn eine Notsituation vorliegt. Dies sieht § 42, S. 2, SGB II ausdrücklich vor, wie auch ein Frankfurter Erwerbslosenberater bestätigt: »In einer Notsituation – ohne Bargeld – hätte ein Vorschuss bewilligt werden müssen. Der Ermessensspielraum reduziert sich in einem solchen Fall gegen Null. (...) Die Kontoauszüge müssen vorliegen, um die Hilfsbedürftigkeit zu belegen. (...) Das Anliegen ›Barauszahlung‹ ist wie jeder Antrag zu bewerten und zu bearbeiten. Der Sachbearbeiter muss diesen entgegen nehmen und (schriftlich) bescheiden. Eine Ablehnung muss der Antragsstellerin in Schriftform ausgehändigt werden, zusammen mit dem Hinweis auf die Möglichkeit, Einspruch beim Sozialgericht zu erheben.«
Im Asservaten- und Spurenverzeichnis der Ermittlungsakte ist weder der Antrag auf Barauszahlung von Frau S. noch die schriftliche Ablehnung des Antrages vorhanden.
II. System mit Zwangscharakter
Das Jobcenter ist Teil eines Systems, das wegen der Unzufriedenheit der Menschen jeden Tag aufs Neue durch Zwangsmaßnahmen aufrecht erhalten werden muss. Ein System, dass über »Hartz IV« dazu führt, dass ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen in Armut leben. Ein System, das diejenigen, die abhängig beschäftigt sind und einen Niedriglohn bekommen, und diejenigen, die ausschließlich auf Hartz IV angewiesen sind, bei der Jagd nach vermeintlichen Arbeitsplätzen gegeneinander ausspielt. Das Jobcenter ist nicht zuletzt auch das Amt in der Bundesrepublik, das ein Heer von jederzeit verfügbaren LeiharbeiterInnen bereit stellt und hält.
Für die Betroffenen stellt es sich als scheinbar anonyme, empathielose Macht dar, der sie mit Misstrauen begegnen; keine soziale, vielmehr eine dem kapitalistischen Markt verpflichtete Behörde. Es verwundert nicht, dass »dem Sozialen«, genauer: sozialen Rechtsansprüchen so häufig erst über die Sozialgerichte Geltung verschafft werden muss.
Es geht um die Aufrechterhaltung einer Gesellschaftsordnung, so sagen es die Prediger des Neoliberalismus, in der der Mensch sich als Ware, als Unternehmer oder gar als Aktie, kurz: als Humankapital zu verstehen hat und selbst vermarkten soll; ein soziales Gefüge, in dem Menschen sich nicht mehr gegenseitig als Menschen, mit Grundrechten versehen, wahrnehmen und begegnen können, sondern als »Überflüssige« zur Aufrechterhaltung des Systems, als Warnsignal und Druckmittel fungieren sollen. Für die Regierung, für deren PropagandistInnen und auch für die MitarbeiterInnen der Jobcenter sind wir abstrakt »KundInnen« (im Unterschied zu vielen anderen KundInnen allerdings nicht kreditwürdig), nicht konkrete Individuen mit einem Recht auf Freiheit und Glück. Um uns unsere Unfreiheit und Abhängigkeit demonstrieren zu können, wurde der § 31 des SGB II mit seinen abgestuften Sanktionsmöglichkeiten geschaffen, der uns bei einem Verstoß in Zwangsmaßnahmen zuweist oder die materielle Existenzgrundlage nimmt.
Die Vergabe von Einkommen ohne Lohnarbeit nach »Hartz IV« erfolgt nach Sozialgesetzen, die nicht bedingungslos sind und die Menschen isoliert und ohnmächtig den Jobcentern preisgeben. Dieses Macht- und Unterdrückungsverhältnis wird durch die Jobcenter mittels unterschiedlicher Instrumente tagtäglich neu befestigt. Eines dieser Instrumente ist der Ermessensspielraum: So entscheiden auch bei klarer Rechtslage die Sachbearbeiter in dieser Machtbeziehung darüber, ob einem Menschen eine Grundsicherung zusteht und ob die Verwaltung ihm diese aufgrund ihres Ermessensspielraums gewährt oder nicht. Ob z.B. auch die Wohnkosten übernommen werden, oder ob es Gründe gibt, diese essenzielle Lebensgrundlage zu versagen, entscheidet ein Einzelmensch im Apparat der Jobcenter.
Erwerbslose und NiedriglöhnerInnen sind so gezwungen, sich durch Wohlverhalten unter diese Macht der Jobcenter und ihrer Angestellten zu beugen, um wenigstens eine kleine Menge Geldes zu erhalten. Dieses Verhältnis, in dem sich Momente institutioneller und persönlicher Macht verschränken, macht die Hilfe suchenden Menschen klein und entmündigt sie.
Mehr Geld als diese sog. »Grundsicherung« steht dem lohnabhängigen Menschen nur bei gelungenem Verkauf der Ware Arbeitskraft zu, und selbst dann ist es oft zum Leben zu wenig. Wir alle sind gezwungen, uns dem kapitalistischen Normalvollzug zu unterwerfen, bei Strafe des eigenen Untergangs. Hat ein Mensch sich selbst im Sinne des Kapitals nicht gut verkauft, so ist die doppelte Unterwerfung im Arbeitsleben und gegenüber dem Jobcenter mittlerweile gängige Konsequenz. Besitz- und eigentumslose Menschen haben die »Wahl«, mühsam ihr Leben zu reproduzieren, indem sie ihre Haut zu Markte tragen und sich dabei dem erbitterten Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt unterwerfen, oder den Gang zum Jobcenter anzutreten – heute oft auch beides gleichzeitig, wie ein Heer von »Aufstockern« zeigt.
Ein Entrinnen aus diesem Hamsterrad, so stellt es sich für viele Betroffene als unmittelbare Erfahrung dar, gibt es nicht. Und diese Menschen werden dann als »Parasiten« (Wolfgang Clement) oder als »Wohlstandsmüll« (Helmut Maucher, ehemaliger Nestlé-Vorstand), kurzum: als nicht-menschliche Wesen bezeichnet, die, so soll uns Glauben gemacht werden, ihr Elend selbst produziert haben.
Wir bedanken uns beim Ehemann von Frau Schwundeck, der uns Zugang zur Ermittlungsakte ermöglichte, sowie bei allen, die uns ihre Zustimmung gaben, Bloginhalte bzw. Interviews verwenden zu dürfen. Eine große Unterstützung war auch das Zusammenstellen von Passagen aus den Sozialgesetzbüchern, besonders die Beschreibung der gesetzlichen Formalien bei der Bearbeitung des Antrages auf Barauszahlung.
[*] Hinrich Garms und Helga Röller sind in lokalen Erwerbslosengruppen und dem Netzwerk BAG Prekäre Lebenslagen engagiert. Beide sind Mitglieder im Arbeitskreis Christy Schwundeck (www.ak-cs.de).
Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Nr. 9/2012, S. 2-3
express im Netz unter: www.express-afp.info, www.labournet.de/express
01.12.2012
"Gewonnen haben wieder die, die immer gewinnen."
So kommentierte Peter Schwundeck die Nachricht vom Oberlandesgericht Frankfurt, die ihn am 23.11.2012 erreichte: Es wird kein öffentliches Gerichtsverfahren geben, in dem die Umstände des Todes seiner Frau Christy aufgeklärt werden können.
Nachdem die Deutsch-Nigerianerin im Mai 2011 in einem Frankfurter Jobcenter von der Polizei erschossen wurde, hatten ihr Mann Peter Schwundeck und ihr Bruder Godstime Omorodion versucht zu erreichen, dass die genauen Tathergänge gerichtlich aufgeklärt werden können. Nachdem die Staatsanwaltschaft nach dem tragischen Vorfall seinerzeit zunächst keine Veranlassung sah, die Eröffnung eines Gerichtsverfahrens gegen die Polizei selbst zu beantragen und das Ermittlungsverfahren einfach einstellte, reagierten die Angehörigen mit einer Beschwerde gegen die Einstellung, die im März 2012 ebenfalls abgelehnt wurde. Als letzten möglichen juristischen Schritt stellten die Angehörigen im Juni dann ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung, um die Verfahrenseröffnung als Nebenkläger selbst zu erreichen.
Das Oberlandesgericht verwarf mit Beschluss vom 19.11.2012 unter dem Vorsitzenden Richter Klaus Pohl diesen Klageerzwingungsantrag der Angehörigen nun als unzulässig, weil die Begründungen der Nebenkläger Schwundeck und Omorodion angeblich nicht der dazu notwendigen Form genügen würden. Nach Auffassung des OLG haben sie in den Schriftsätzen ihrer Anwälte nicht widerlegen können, dass die Polizeibeamtin in Notwehr schoss.
- Beschluss des OLG, Seite 2, Absatz 2: Es "fehlt [...], was die Widerlegung einer Rechtfertigung des erfolgten Totschlags durch Notwehr anbelangt".
Der Vorsitzende der "Nigerian Association Rhein-Main Area e.V.", Herr Iyamu Imade, der nach dem Vorfall in 2011 an der Gründung einer Bürgerinitiative zum Fall Christy Schwundeck beteiligt war, bedauert die Klageabweisung. Die Entscheidung sei unverständlich. "Es ist sehr, sehr schade, dass die Richter in Frankfurt nicht bereit waren, die genauen Umstände des Todes dieser Frau in einem öffentlichen Prozess aufzuklären. Seit Mai 2011 war es unser Anliegen, für ein bisschen Aufklärung und Gerechtigkeit für unsere Schwester zu sorgen. Mein Wunsch, und der vieler Afrikaner in Frankfurt, wäre es gewesen im Prozess auf der Besucherbank zu sitzen und den vielen Zeugen zuzuhören, um zu verstehen, wie das alles passieren konnte."
Der Sprecher des "Arbeitskreis Christy Schwundeck", Roman Thilenius, ist über die Begründung des Gerichtsbeschlusses erstaunt. "Meines Wissens nach muss bei Tötungsdelikten keinesfalls bereits die Schuld bewiesen sein, um ein Gerichtsverfahren zu eröffnen. Wäre die Unschuld bereits festgestellt, bräuchte man ja auch kein Verfahren mehr. Die Unschuld konnte aber auch das OLG nicht herleiten, sondern reitet nur darauf herum, die Angehörigen könnten die Schuld der Polizistin nicht beweisen. Die Schuld zu beweisen ist aber keinesfalls die Pflicht der Nebenkläger. Auf der Basis des Zweifelsgrundsatzes ein Verfahren erst gar nicht zu eröffnen ist zwar theoretisch möglich, aber keinesfalls die einzige Option, so wie es das OLG in diesem Beschluss sinngemäß feststellt."
Seiner Auffassung nach gab es gravierende Mängel bereits im Ermittlungsverfahren des Staatsanwalts, der trotz widersprüchlicher Zeugenaussagen über die Frage, ob 2011 am Tatort Jobcenter Frankfurt Gallus eine Notwehrsituation vorlag oder nicht, noch nicht einmal die entsprechenden Zeugen nach vernommen hatte.
Helga Röller, ein weiteres Arbeitskreismitglied, bezeichnet die Darstellung des OLG, Frau Schwundeck habe mit einem Messer bewaffnet einen Schritt nach vorne gemacht, was eine Notwehr durch die Polizei dann wohl rechtfertigen würde, als "absurd und widersprüchlich".
Das OLG argumentiere, dass man am Schusskanal sehen könne, dass sich die Frau nach vorne gebeugt habe, als die Polizei schoss. Gleichzeitig hält das Gericht dann aber die Aussage der Polizistin, Frau Schwundeck sei einen "Schritt" auf die Beamtin zugegangen, für glaubhaft. In der Aussage der Polizistin wird der angebliche Schritt von Frau Schwundeck zum Dreh- und Angelpunkt. Im Widerspruch dazu ihr Polizeikollege, der weder einen "Schritt" oder etwas Vergleichbares zu Protokoll gab. Nach dem Verständnis von Frau Röller wurde Frau Schwundeck in einer Position getroffen, die gerade nicht auf einen Angriff auf die Polizistin hindeutet.
Rechtsanwalt Michael Koch, der die Familie der Getöteten vertritt, argumentierte in seinem Klageerzwingungsantrag ähnlich: Seiner Auffassung nach widerlegen die Zeugenaussagen, die zum Inhalt haben Frau Schwundeck hätte sich vor der Schussabgabe durch die Polizei zu der Beamtin "umgedreht", bereits deren eigene Darstellung über diesen entscheidenden Moment. Die Polizeibeamtin hatte im Ermittlungsverfahren eine Erklärung abgegeben, in der sie aussagte, die Angreiferin hätte sich auf sie zubewegt.
Deutlich kritisch äußert sich auch Rechtsanwalt Thomas Scherzberg, der den Ehemann vertritt, über die Bewertung des Gerichts über den Tathergang. Seiner Auffassung nach hat das OLG "übersehen", dass der Einsatz von Schlagstock oder Pfefferspray die Gefahr eines Angriffs der mit einem Steakmesser bewaffneten Frau genauso gut hätte abgewehrt werden können wie die gezielte Abgabe eines Schusses aus der Dienstwaffe. "Die Argumentation, dass auch die sich verteidigenden Polizisten sich selbst hätten schwächen können, wenn Pfefferspray eingesetzt worden wäre, ist absolut trickreich, da ja zunächst auch Frau Schwundeck dadurch außer Gefecht versetzt worden wäre." Nach dieser Argumentation des OLG wäre jeglicher Einsatz von Pfefferspray durch Polizisten sinnlos, meint der Anwalt.
Auch bezüglich der Abgabe eines Warnschusses als vorletztes Mittel argumentierte das OLG energisch dagegen und schloss aus, dass die Beamtin zu einer solchen Maßnahme verpflichtet gewesen sein könnte. Für die Abgabe eines Warnschusses sei nicht mehr genug Zeit gewesen, in der die Polizistin hätte abschätzen können, inwieweit nicht Dritte durch Querschläger hätten verletzt werden können, so das OLG. "Einen Schuss in Richtung Fenster halten die Richter also für weniger gefährlich für Unbeteiligte als einen in die Decke", bewertet Thilenius diese Argumentation des Gerichts. "Man versteht das nicht mehr, egal wie viel Mühe man sich gibt."
Wir bedanken uns bei allen Menschen, die auf unterschiedliche Art und Weise daran beteiligt waren zu versuchen, die Aufklärung der Todesumstände von Christy Schwundeck herbeizuführen. Neben den Mitgliedsvereinen und Freunden des Arbeitskreis Christy Schwundeck sind dies vor allem die beiden Rechtsanwälte, die den Witwer Peter Schwundeck sowie die Familie Omorodion vertreten haben, die Organisationen 'The Concerned Nigerians', 'Nigerian Association Rhein-Main Area e.V.' und 'Courage gegen Rassismus e.V.', sowie die zahlreichen interessierten Journalisten und Blogger, die sich ernsthaft mit dem Thema auseinandergesetzt hatten.
Die juristische Auseinandersetzung um Gerechtigkeit für Christy Schwundeck ist endgültig verloren, aber wir wissen, dass wir alles versucht haben, was uns möglich war, und wir würden es jederzeit wieder tun.
Frankfurt, den 1. Dezember 2012, Arbeitskreis Christy Schwundeck
Sitz und Anschrift:
Arbeitskreis Christy Schwundeck
Böttgerstraße 27, 60389 Frankfurt am Main
Der Arbeitskreis freut sich über Kommentare und Anmerkungen unter kontakt [at] ak-cs [dot] de