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April 2013

Harald Rein

Existenzsicherung und Erwerbslosenprotest

Neue Debatten innerhalb der Erwerbslosenbewegung

In diesen Ausführungen geht es mir darum Hinweise zu geben, warum Erwerbslose eher selten kollektiv protestieren und stärker individuelle Resistenzen entwickeln, die nach außen kaum erkennbar sind und politisch den autoritären Sozialstaat nicht zum Wanken bringen. Manche eruptive massenweise Manifestation Betroffener, wie 1998 und 2003/2004, sind, so schnell wie sie entstanden sind, auch wieder in sich zusammen gebrochen. Aber es hat die Erfahrung gegeben, dass Protest auch in anderer Form öffentlich werden kann und auf die Aktiven wirkt, die sich heute noch regelmäßig in Initiativen treffen, Aktionen vor den Jobcentern oder Sozialämtern durchführen, Zahltage organisieren usw. Es ist eben nicht vorauszusehen, wann sozialer individueller Protest in eine kollektive Form übergeht. Es ist aber wichtig Strukturen zu schaffen, die es ermöglichen, in jeder Situation und zu jedem Zeitpunkt zu reagieren, wenn sich Protest auf der Straße regt. Diese Struktur repräsentiert sich durch die rund 600 Initiativen, Treffs und Zentren von und für Erwerbslose in Deutschland. Ihre Orientierung auf die Arbeit in der jeweiligen Stadt oder dem Landkreis und ihre bundesweite dezentrale Organisationsstruktur, hindert sie nicht daran, auch bundesweite Strategien und Aktivitäten zu planen und durchzuführen. Eine davon wird hier vorgestellt und kritisch betrachtet.

Nach der großen Mobilisierung 2003 und 2004 gegen Hartz IV und dem ernüchternden Bundesverfassungsgerichtsurteil 2010 zu den Regelsätzen sind weitere bundesweite öffentlichkeitswirksame Proteste von Erwerbslosen gegen sozialstaatliche Reglementierungen und Verarmungspolitik ausgeblieben. Dies hat Gründe und wird von den bundesweiten Erwerbslosennetzwerken unterschiedlich eingeschätzt. Ein Teil der Initiativen sieht im nicht geschlossenen Auftreten derjenigen Gruppen und Institutionen, die eine Erhöhung des Regelsatzes forderten, ein wesentliches Kriterium für die Erfolglosigkeit verschiedenster Aktivitäten. Ohne gemeinsame Forderungen ließe sich die gesellschaftliche Isolation in dieser Frage nicht aufheben, so M. Bättig in der Quer vom Dezember 2012[1]

Mit einem gewissen Stolz  wurde die Präsentation eines Bündnisses für ein höheres Existenzminimum am 06. Dezember 2012 in Berlin kommentiert. „Wohl zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland stellen nun Erwerbslose gemeinsam mit Flüchtlingsinitiativen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, Sozialverbänden, Bauern- und Umweltverbänden Forderungen für ein menschenwürdiges Existenzminimum.“[2] Das Bündnis legte unter dem Titel „Ein menschenwürdiges Leben für alle – das Existenzminimum muss dringend angehoben werden! – update erforderlich!“ ein Positionspapier vor, in dem, ausgehend von den Daten der „Einkommens- und Verbrauchsstichprobe“ (EVS) „eine methodisch saubere, transparente Ermittlung der Regelsätze und (ein) Verzicht auf willkürliche, sachlich nicht begründbare Abschläge“[3] eingefordert wird. Im Papier werden beispielhaft statistische Tricks und fragwürdige Abschläge kritisiert und eine Bedarfslücke zwischen 150 und 170 € behauptet, ohne eine konkrete Höhe zu nennen, da „diese von einer Fülle normativer und rechnerischer Annahmen abhängig ist und damit weiterer Untersuchungen und gesellschaftlicher Diskussionen bedarf.“[4]

Es stellt sich natürlich die Frage, ob dieses breite Bündnis in der Lage ist, Druck auf „die Politik“ auszuüben und ob dieser strategische Coup tatsächlich den Protest von Erwerbslosen stärken kann. Um dies auch nur annähernd zu beantworten, benötigt es einen Blick auf Proteste und Protestformen von Erwerbslosen in den letzten Jahren.

Wer über Protest von Erwerbslosen in Deutschland nach 1945 schreibt[5], wird nur selten auf erfolgreiche Kämpfe Rückschau halten können. So schnell und unerwartet wie sie entstanden, so rasch verschwanden sie auch schon wieder von der politischen Bühne. Zumindest, wenn man Protest als ein massenhaftes, straßenorientiertes und ereignisreiches Druckmittel begreift, dass den Verursachern einer gesteuerten Armutspolitik deutlich ihr kollektives Misstrauen ausspricht. Aber Erwerbslose sind keine sozial einheitliche Gruppe mit gemeinsamem Bewusstseinsstand. Während die einen schnell einen neuen Arbeitsplatz finden (etwa ein Drittel der Erwerbslosen), geraten die anderen in existenzielle Armut, ohne Chance auf eine gesicherte Zukunft und/oder befinden sich im Kleinkrieg mit Jobcenter bzw. Arbeitgeber/Leiharbeitsfirmen/Maßnahmeträger etc.

Zuerst kämpft jeder und jede mit individuellen Strategien für einen neuen Arbeitsplatz, für eine bessere Existenzsicherung und gegen eine sozialstaatliche Bürokratie, die den Einzelnen nur als Kostenfaktor sieht und entsprechend behandelt.

Es ist müßig, darüber zu lamentieren, warum bei bestimmten Sozialeinschnitten sich Betroffene nicht wehren, warum eine weltweite Krise keine Auswirkungen auf kollektive Aktionsweisen von Erwerbslosen und NiedriglöhnerInnen hat. Vergessen wird oft, dass die Situation eines Großteils von Erwerbslosen immer eine krisenhafte ist, das verfügbare Budget befindet sich ständig am unteren Level. Die zentrale Forderung „Wir bezahlen nicht für Eure Krise“ perlt am tagtäglichen individuellen Kampf um Existenzsicherung ab, sie wirkt fast zynisch.

Potentielle Bündnispartner sind rar gesät, weder die Gewerkschaften, noch Wohlfahrtsverbände oder Kirchen sind willens und bereit, für eine wirkliche Verbesserung der sozialen Lage von armen Leuten einzutreten. Dies ändert sich auch nicht durch manche wortgewaltige Reden einzelner Funktionäre zu bestimmten Anlässen (Vorstellung des Armutsberichtes, 1. Mai – Reden usw.), oder durch eine Unterschrift unter diversen Positionspapieren. In der Praxis haben sich VertreterInnen von ver.di und IG Metall aktiv an der Hartz-IV-Kommission beteiligt und Wohlfahrtsverbände wie auch kirchliche Organisationen profitieren vom Leid vieler Erwerbsloser (z.B. durch die Einrichtung von Ein-Euro-Jobs oder Bürgerarbeitsplätze). Zu verzahnt sind ihre politischen Interessen mit einem herrschenden Korporatismus, indem Arbeit um jeden Preis den Mittelpunkt bildet und Sozialpolitik als Vehikel gesehen wird, dies gesellschaftlich umzusetzen. Aber auch der monolithische Block der Gewerkschaften kann ins Wanken geraten, wenn die MitgliederInnen die Einsicht verspüren ihren Vorsitzenden nicht mehr folgen zu wollen. So geschehen 2003, als Anti-Hartz-Gruppen es schafften, mit Unterstützung vieler Gliederungen der Gewerkschaften (besonders wichtig für den Transport) 100.000 Menschen zum öffentlichen Protest gegen das noch nicht verabschiedete Gesetz nach Berlin zu bringen. Offensichtlich hatten maßgebliche Gewerkschaftsfunktionäre den Protestwillen ihrer eigenen Leute falsch eingeschätzt und befanden sich plötzlich in der Defensive. Ein Vorgang, der innerhalb der Sozialprotestbewegung einmalig blieb.

Es ist keine besondere Überraschung festzustellen, dass es einen Seismographen des kollektiven Aufbegehrens von armen, unterdrückten Menschen nicht gibt. Allerdings wissen wir, so Frances Fox Piven, dass Menschen, „um zu kollektiven Aktionen zu kommen, zunächst eine stolze und wütende Identität entwickeln (müssen) und damit verbundene Forderungen. Erniedrigung und Scham muss sich in Wut und Empörung verwandeln.“[6] und sie besitzen eine Ressource, die nur selten genutzt, aber dennoch erfolgversprechend sein kann: den Verlust ihrer Geduld und die Aufkündigung ihrer Loyalität gegenüber Politik und Sozialbürokratie. Piven bezeichnet diese Ressource „die Störung der institutionellen Ordnung unserer Gesellschaft.“ Und stellt fest: „Auf diese Weise konnten untergeordnete Gruppen in der Geschichte hin und wieder Erfolge erzielen.“[7]

Als Beispiel sei hier folgende Meldung genannt:
“Rund 100 Hartz-IV-Empfänger haben in der Arbeitsagentur von Herne randaliert. Der Grund: Zum Monatsletzten war ihr Geld nicht auf den Konten. Die zunehmend aggressive Menge forderte so lautstark die Auszahlung, dass Mitarbeiter die Polizei zu Hilfe riefen. Bochums Polizeisprecher sprach von einen „Massenüberfall in noch nicht dagewesener Dimension“. Am Nachmittag entspannte sich die Situation schlagartig, als die Überweisungen eingingen.“[8]
Wut und Protest entwickelt sich aus der individuellen Sichtweise, von einem würdevollen Leben ausgeschlossen zu sein. Auf der Grundlage eines spezifischen Gerechtigkeitsempfindens bezieht sich diese persönlich bestimmte Resistenz auf unanständige Behandlung durch die Sozialbehörde, durch Maßnahmeträger usw.

Werden diese Ansprüche verbunden mit der Hoffnung auf rechtliches Gehör, wandelt sich die anfängliche Wut Einiger in Hoffnung auf den Rechtsstaat. Kollektivität versiegt im Warten auf ein günstiges Rechtsurteil. Dennoch kann es immer wieder, bezogen auf ein kurzfristiges Ziel, zu eruptiven Erhebungen kommen (siehe Herne) oder zu massenhaften Straßenauftritten von Erwerbslosen wie z.B. im Osten Deutschlands 2004 (Montagsdemonstrationen). Herne und die Montagsdemonstrationen machen deutlich, der Zeitpunkt, wann Erwerbslose den Deckel des kochenden Wasserkessels sprengen steht in keinem Lehrbuch, ist in den seltensten Fällen vorhersehbar und entzündet sich oft an kleinen, kaum erkennbaren Details.

Doch was heißt das jetzt für künftige Proteste oder Kampagnen zur Verbesserung der Lage von Erwerbslosen?

Christian Schröder und Leiv Voigtländer sind dieser Frage, am Beispiel der Proteste gegen den bestehenden Regelsatz, in einem Aufsatz in der Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft (PROKLA 166) nachgegangen. Unter dem Titel „Ringen um den Regelsatz. Erwerbslosenproteste und die Neubestimmung der Hartz-IV-Höhe“ legen beide Autoren einen Zeitrahmen fest, indem möglicher Widerstand von Erwerbslosen und anderen erfolgreich hätte sein können und analysieren das Scheitern dieser Möglichkeit. Der Aufsatz ist schon deshalb interessant, weil er einen Erklärungsansatz bietet, der von einigen Erwerbslosengruppen geteilt wird und Konsequenzen für eine Bündnispolitik beinhaltet. Ihre Argumentation verläuft folgendermaßen: Nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil im Februar 2010  zu den Hartz-IV Regelsätzen „öffnete sich für Erwerbslosen- und Sozialinitiativen sowie ihre Verbündeten ein politisches Gelegenheitsfenster, um für eine nennenswerte Regelsatzerhöhung zu streiten“[9]. Dieses Fenster schloss sich, nachdem eine Art große Koalition einen politischen Kompromiss verabschiedete. Der Kampf für eine „nennenswerte Regelsatzerhöhung“ war verloren. Sie erklären diese enttäuschende Entwicklung in dreifacher Weise: mit der organisatorischen Schwäche der Erwerbslosennetzwerke (in Form des „Krach-schlagen-Bündnisses“[10], dem die „Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen“ (KOS), das „Aktionsbündnis Sozialproteste“ (ABSP), ver.di-Erwerbslose, die „Bundesarbeitsgemeinschaft prekäre Lebenslagen“ (BAG-PLESA)[11], die „Arbeitslosenselbsthilfe-Oldenburg“ (ALSO) und andere angehören), die auch durch „potenzielle Verbündete“ nicht gestärkt werden konnte, einer Parteienkoalition pro Hartz-IV und der herrschenden ökonomischen Strategie den Niedriglohnsektor weiter auszubauen.

Einerseits verweisen die Autoren auf die zeitlich dezimierte Möglichkeit einer gesellschaftlichen Debatte darüber, was der Mensch zum Leben braucht, um andererseits festzustellen, dass nur das realpolitisch Machbare für eine Regelsatzerhöhung dienlich wäre.

Wohl wissend, dass es auch noch andere, weitergehende Forderungen gibt (etwa die 500-€- Forderung[12] bzw. die Forderung nach einem Existenzgeld[13]), wird nur eine davon (nämlich die nach „Mindestens 80 Euro mehr für Lebensmittel“), „als machbar und tragbar für mögliche Verbündete aus Wohlfahrtsverbänden und Gewerkschaften eingeschätzt“[14].

Erhofft hatte sich ein Großteil der Erwerbslosennetzwerke mit ihrer Minimalforderung, durch Einbezug von sozialen Verbänden und Gewerkschaften bzw. durch neuartige Allianzen (z.B. Milchbauern in Oldenburg), die eigene organisatorische Schwäche auszugleichen. Auch die Autoren vertreten die Auffassung, dass Erwerbslose „als ressourcenschwache, marginalisierte Akteure … auf Verbündete zur Durchsetzung ihrer Forderungen angewiesen“[15] sind. Wurde die zentrale Demonstration in Oldenburg 2010 noch als Erfolg gesehen, schlug der Versuch den Protest anschließend zu dezentralisieren fehl. Fazit der Autoren:

„Die Erwerbsloseninitiativen und ihre Verbündete hatten die Auseinandersetzung in jeder Hinsicht verloren.“[16] .Schließlich versteigen sich die Autoren zu der Behauptung:

„Die Erwerbslosennetzwerke gingen mit ihrer Entschlossenheit, das politische Gelegenheitsfenster der Regelsatzneuberechnung für einen messbaren Erfolg zu nutzen, offenbar weiter, als ihnen Gewerkschaften, Bewegungen und Verbände aber auch viele Erwerbsloseninitiativen vor Ort zu folgen bereit waren.“[17]

Zusammenfassend lässt sich die Position der Autoren so formulieren: zu einem bestimmten eng begrenzten Zeitpunkt wäre es möglich gewesen, mit einer minimalen Forderung zur Erhöhung des Regelsatzes und unter Einbezug möglicher politisch potenterer Bündnispartner, verbunden mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen die politische Phalanx der Hartz-IV-Koalition so unter Druck zu setzen, dass ein für Erwerbslose günstigere Lösung herausgekommen wäre. Letztendlich folgten diese Linie weder die Bündnispartner noch die Mehrheit der Erwerbslosengruppen.

In dieser Argumentation fällt auf, das der Ansatz des „Krach schlagen-Bündnisses“ als alternativlos angesehen wird und Kritik an der Mindestforderung („80 Euro mehr für Lebensmittel“) durch andere Erwerbslosengruppen nicht diskutiert wird. Mobilisierungsmöglichkeiten werden nicht in einer grundlegenden Ablehnung des Regelsatzes gesehen, sondern ausschließlich mit dem Blick auf eine Mindestforderung, die den Regelsatz als solchen nicht in Frage stellt. Damit erhofft man sich eine Stabilisierung bezüglich der Innenstruktur des Bündnisses, d.h. das gemeinsame Votum auf einen Minimalkompromiss erscheint als erfolgsversprechend und Sozialverbände bzw. Gewerkschaften fällt es leichter sich dem Bündnis anzuschließen (was ja auch im „Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum“ geschehen ist). Im Mittelpunkt steht nicht, wie die Autoren am Anfang ihres Artikels behaupten, die Beantwortung der Frage, was braucht der Mensch zum Leben, sondern wie begründen wir einen Teilaspekt der Regelsatzdiskussion (hier Ernährung), den wir als „realpolitisch machbar“ ansehen, um (als Beispiel gesehen) auch die letzte Erwerbslosengruppe im Hintertaunus zusammen mit dem sozialdemokratisch orientierten Geschäftsführer der Caritas aus dem Breisgau in ein gemeinsames Bündnis einzubeziehen.

Tatsächlich ist dieser politische Ansatz gescheitert, weil sich eben nicht alle Erwerbslosengruppen (und schon gar nicht alle Erwerbslosen) auf einen Minimalkonsens einlassen wollten und der festgesetzte Zeitpunkt für zentrale Aktivitäten nicht auch automatisch zu Aktivitäten führt. Ein, zu diesem Zeitpunkt, nur geringer Alltagswiderstand wird quantitativ nicht größer, indem zu einer zentralen Demonstration und daran anschließenden dezentralen Aktionen aufgerufen wird. Aber auch Caritas, AWO, DGB und andere haben noch nie ihren Organisationsapparat dazu verwendet, für Erwerbslosenforderungen auf der Straße zu mobilisieren und seien sie noch so zart formuliert. Dazu sind ihre Interessen, natürlich auch graduell unterschiedlich, mit den sozialpolitischen Interessen der Bundesregierung viel zu stark verwoben.

Meine Einschätzung richtet sich nicht gegen den Versuch, bundesweite Aktivitäten für eine Verbesserung der Lebensqualität armer Menschen zu initiieren, schließlich weiß man oft

erst vor Ort, ob die bewußtseinsmäßige Stimmung unter den Betroffenen wirklich so groß war, dass sie weite Wege und Entbehrungen in Kauf nehmen, um in Berlin oder Oldenburg zu demonstrieren. Aber ein wesentlicher Unterschied zur Demonstration 2003 in Berlin fällt auf: dort wurde nicht als Minimalziel z.B. die Rückgängigmachung der Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung gefordert, sondern die Rücknahme der Neuregelung für Arbeitslosenhilfe- und SozialhilfebezieherInnen, nämlich „Weg mit Hartz IV!“. Das war zwar kein Ziel der höheren Gewerkschaftsfunktionäre und schon gar nicht der Geschäftsführer der Wohlfahrtsverbände, sprach aber Erwerbslose genauso an, wie prekär Beschäftigte und Gewerkschaftsmitglieder bis in die mittlere Funktionärsebene.

Zu welchen Blüten eine auf Ernährungsfragen reduzierte Kampagne führen kann, zeigte sich im Rahmen einer Demonstration von Verbrauchergruppen, Bauern und anderen unter dem Motto „Wir haben es satt“ am 21.01.2012 in Berlin. Dort trugen Erwerbslose in einem „Krach-schlagen“-Block ein Transparent mit der Aufschrift: „Mehr Hartz IV ist gut für alle!“. Damit erhoffte man sich das Bündnis mit Milchbauern und den Betreibern ökologischer Landwirtschaft stärken zu können, ohne darauf hinzuweisen, was Hartz IV, auch mit höherem Regelsatz, für den Einzelnen bedeutet: Diskriminierung, Ausbeutung, Schikane, Einschränkung sozialer Rechte etc. Wird der Mechanismus Hartz IV nicht als Ganzes kritisiert und in Frage gestellt, erscheint es so, als sei es möglich einzelne Teile zu reformieren und im Sinne der Erwerbslosen zu verändern. Dies kann zu einem Trugschluss führen und lässt Verantwortliche eines erniedrigenden Zwangssystems (PolitikerInnen, Wirtschaftsfachleute, GeschäftsführerInnen der Wohlfahrtsindustrie usw.) plötzlich als Bündnispartner erscheinen. Real finden sich einige von ihnen (AWO, Diakonie, Evangelischer Fachverband für Arbeit und soziale Integration) im, von einigen Erwerbslosengruppen (u.a. Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg, Tacheles, Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen) initiierten „Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum“ wieder. Ausgangspunkt sind gemeinsame Kritikpunkte an der willkürlichen, aber dennoch politisch bestimmten Begründung für eine Regelsatzerhöhung durch die Bundesregierung. An vielen Beispielen wird im Papier die „Dimension des Mangels“ im aktuellen Regelsatz nachgewiesen und sich für eine „methodisch saubere, transparente Ermittlung der Regelsätze“ eingesetzt. Ziel sollte sein „für eine deutliche Erhöhung der Regelsätze in der Gesellschaft einzutreten und zusammen eine breite gesellschaftliche Debatte anzustoßen über die Frage „Wie viel braucht ein Mensch zum Leben und wie soll das aussehen?“[18].

Zu allererst stellt sich die Frage, welche gesellschaftlichen Veränderungen gibt es, auf deren Hintergrund ein Bündnis mit Kräften eingegangen werden soll, die nicht nur staatstragend sind, sondern auch aktiv das Hartz-IV-System gefördert haben und weiter fördern. Eine öffentliche Distanzierung davon ist nicht erkennbar, allenfalls Umsetzungsfehler werden kritisiert. Also, warum mit solchen Organisationen über Monate an einem Papier feilen, das in der Praxis der beteiligten Organisationen (bis auf die Erwerbslosengruppen) kaum eine Rolle spielt?

Und warum über Details eines Regelsatzes verhandeln, der als Ganzes ein Politikum der Armut darstellt?

Gäbe es einen nennenswerten, öffentlichen Widerstand in der Alltagswirklichkeit der Erwerbslosen, eine sichtbare Kampagne für eine Erhöhung des Regelsatzanteils Ernährung, wäre womöglich ein solcher Schritt eine Stärkung des Widerstandes, eine Argumentationsgrube für weitere Aktivitäten. Aber so sieht die Praxis nicht aus, der Alltagskampf beschränkt sich zumeist auf die rechtliche Ebene oder in individuellen Ausbrüchen. Die Ebene des Zusammensitzens u.a. mit Teilen der Verwaltung des Elends stärkt nicht den Protest, sondern schwächt ihn, weil er aus der Position der Schwäche der Erwerbslosenbewegung denjenigen die Hand reicht (und sie somit rehabilitiert), die bisher wenig oder gar nichts zur Verbesserung der sozialen Lage Erwerbsloser beigetragen haben.  Dies zeigt sich auch in den schwammigen Formulierungen im Positionspapier:

„Wir sehen …dringenden Handlungsbedarf, die bestehenden Sanktions- und Zumutbarkeitsregelungen zu überwinden … Ähnliches gilt auch für alle gesetzlichen Regelungen, die das Leben in einer menschenwürdigen Wohnung in Frage stellen…[19]

Und schließlich wird die Einsetzung einer „unabhängigen Kommission“ das Wort geredet, in denen noch mehr Interessenten eines niedrigen Regelsatzes sitzen sollen, aber natürlich auch Betroffene.

Ein wenig erscheint es so, als ob die VertreterInnen dieses Ansatzes, im Zusammenhang mit der Diskussion über den Regelsatz auf Vernunft setzen, auf das Rationale, und glauben es dadurch zu erreichen, dass WissenschaftlerInnen in Form von  „methodisch sauberen“ Erläuterungen den Regelsatz erhöhen helfen. Aber es ist ein Trugschluss, darauf zu setzen, da die Herrschenden von einer anderen Rationalität ausgehen – nicht der Mensch steht dabei im Mittelpunkt, sondern ausschließlich dessen ökonomische Verwertbarkeit.

Eine Orientierung auf Mindestsicherungen in Zusammenarbeit mit zum Teil für Erwerbslose inakzeptablen Großorganisationen wirkt eher demotivierend.

 



[1] Bättig, M.: Ein menschenwürdiges Leben für alle – kommt nicht von allein, in Quer 4/Dezember 2012

[2] dito, S. 4

[3] Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum: Positionspapier, S. 31

[4] dito, S. 29

[5] siehe Rein. H.(Hg.): Dreißig Jahre Erwerbslosenprotest, Neu-Ulm 2013

[6] „Mobilisierung der Arbeitslosen“, in: „express“ 02/11

[7] „Regeln brechen Quellen der Macht – ein Gespräch mit Frances Fox Piven“, in: „express“ 02/11

[8]  http://www.bild.t-online.de, 01. Februar 2007

[9] Schröder, C./Voigtländer, L.: Ringen um den Regelsatz. Erwerbslosenproteste und die Neubestimmung der Hartz-IV-Höhe, in: PROKLA 166, Januar 2012, S.  65

[11] Diese wie auch der ABSP sind mittlerweile nicht mehr im „Krach-schlagen-Bündnis“ vertreten.

[12] http://www.500-euro-eckregelsatz.de

[13] Allex, A./Rein, H.(Hg.): „Den Maschinen die Arbeit … uns das Vergnügen!“ Beiträge zum Existenzgeld, Neu-Ulm 2012

[14] Schröder/Voigtländer, S. 67

[15] ebenso, S. 68

[16] ebenso, S. 68

[17] ebenso S. 73

[18] Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum: Positionspapier, S. 30

[19] dito, S. 13

 

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