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Elektronischer Rundbrief Nr. 31/2010, 22.12.2010
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Harald Rein,
Januar 2010
Keine Atempause – Geschichte wird gemacht
…Erwerbslose in Bewegung
Das öffentliche Bild von
Erwerbslosen ist nach wie vor geprägt durch eine Sichtweise,
demnach Menschen ohne Erwerbstätigkeit in ihrer sozialen und
psychischen Entfaltung eingeschränkt oder gar deformiert sein
müssen. Resultat ist die Charakterisierung eines Menschentypus,
der leidet und in Apathie verfällt, unfähig zu aktivem
sozialem Handeln. Mit zu diesem Bild beigetragen haben aber auch
unzählige Geschichtsschreiber sozialer Bewegungen, für die,
in den meisten Fällen, Erwerbslose nur als Teil der
Arbeiterbewegung existierten. Spezifische Organisationsformen,
besondere inhaltliche Schwerpunktsetzungen und daraus resultierende
Widersprüche zur (revolutionären) Sozialdemokratie der
Vorkriegszeit bzw. der Kommunistischen Partei verloren sich im
Strudel des „solidarischen Gemeinsamen“.
In der
gesamten Geschichte des Widerstandes von Erwerbslosen, mit Beginn der
Industrialisierung, lassen sich Merkmale politischer Protestformen
finden, die nicht in das Repertoire politischer (auch
fortschrittlicher) Parteien oder Gewerkschaften passten.
Kaum
vorhersehbar, schwer organisierbar mit einer politischen Direktheit,
die selten Platz für Kompromisse und Arrangements lies, traten
Erwerbslose auf das Parkett des „regulierten“
Klassenkampfes. Sie erlebten nicht nur den Widerstand der etablierten
politischen Parteien und Wirtschaftsverbänden, sondern auch die
Distanzierungen von Arbeiterorganisationen. Selbst in revolutionären
Zeiten mussten Erwerbslose, wie im Oktober 1920 in Berlin den 1.
Reichskongress der Betriebsräte durch direkte Aktion dazu
bringen, dass das Thema Erwerbslosigkeit überhaupt auf die
Tagesordnung kam. Eine von vielen Erfahrungen, die bis heute noch
eine wesentliche Rolle spielt: wenn wir unsere Interessen nicht in
die eigenen Hände nehmen, wird sich nichts ändern!
Aber
noch ein weiterer Punkt spielte in diesem Zusammenhang eine Rolle,
oft waren es Erwerbslose, die in bestimmten Zeitepochen tradierte
politische Praxis und Theorie durchbrachen. So erkannte in der
Weimarer Republik ein Großteil von ihnen, dass es außer
einem mühevollen 10-Stunden-Arbeitstag durchaus andere
Lebensperspektiven gab. Ihr Aufbrechen in die Wälder, an die
Seen, ihre Eroberung der Straße, der Laubenkolonien, kann als
erste massenhafte Kritik an dem ehernen Lohnarbeitsgesetz mit seiner
belastenden Ideologie der protestantischen Leistungsethik
interpretiert werden. Die spezifische Bewusstwerdung eines
angemessenen Lebensentwurfes der eigenen Ideen und Vorstellungen
außerhalb der Fabrik, konnte nur über den gemeinsamen
sozialen Status der Erwerbslosigkeit ‚entdeckt’ werden
und dies trotz der begleitenden Umstände bitterer Armut!
Kaum
dokumentiert und bewertet sind auch die Aktivitäten von
Erwerbslosen im Zusammenhang mit Kämpfen gegen
Arbeitsverpflichtung durch Arbeitsamt und Fürsorgeamt, sowie die
kollektiven und individuellen Widerständigkeiten gegen
Arbeitsdienst und arbeitsdienstähnliche Maßnahmen während
den Anfängen des Nationalsozialismus.
In den Fünfziger
Jahren lassen sich wieder erste Versuche des Zusammenkommens von
Erwerbslosen feststellen. Aufgrund der allgemeinen
Wirtschaftsentwicklung mit entsprechender Beschäftigungswirkung
lösten sich diese Gruppen aber rasch wieder auf.
Erst
Anfang/Mitte der Siebziger Jahre, die Arbeitslosenzahlen erreicht die
Millionengrenze, beginnen sich Betroffene von Arbeitslosigkeit wieder
zusammenzufinden, um in der Öffentlichkeit auf ihre Situation
aufmerksam zu machen und in sozialen Auseinandersetzungen ihren
Forderungen Nachdruck zu verleihen.
Konstituierung des
Erwerbslosenprotestes
Unter dem Motto „Arbeitslos –
nicht wehrlos“ trafen sich Anfang Dezember 1982 rund 2000
Betroffene und UnterstützerInnen zum 1. Bundeskongress der
Arbeitslosen in Frankfurt. Sie läuteten den Beginn sozialer
Widerständigkeiten gegen Arbeitslosigkeit und Armut ein.
Allerdings zeigten sich bereits auf diesem Kongress unterschiedliche
Positionen zu Form und Inhalt von Protest. Dies bezog sich
hauptsächlich auf die Fragen nach der Notwendigkeit einer
zentralen Organisationsform, der Forderung nach einem Recht auf
Arbeit und der Rolle von Gewerkschaften als Bündnispartner von
Erwerbslosen. Ihre kritische Haltung zu Gewerkschaften, zum
vorherrschenden Arbeitsbegriff und zu zentralen Organisationstypen
äußerten autonome/unabhängige und einige kirchliche
Erwerbslosengruppen, während besonders gewerkschaftlich
organisierte Gruppen erfolgreiche Politik eher durch Zentralität
und inhaltlicher Gewerkschaftsnähe gewährleistet sahen.
Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt schälten sich
Besonderheiten des bundesweiten Protestes von Erwerbslosen heraus:
Eine organisatorische Kraft kann nur auf der Grundlage der Arbeit vor Ort entstehen.
Eine Zentrale ohne die Unterstützung dieser Initiativen ist nur ein Papiertiger.
Der Aufbau von Initiativen erfolgt nach dem Selbstorganisationsprinzip, indem auf die eigene Kraft und Fähigkeiten vertraut wird und soweit wie möglich die Unabhängigkeit gegenüber Großorganisationen (Kirche, Gewerkschaften, Kommunen) gewahrt bleibt.
Zudem
stand und steht ein Teil der Initiativen für eine besondere Form
der Radikalität (z.B. in Form von direkten Aktionen) und der
Notwendigkeit der Vision von einer anderen Gesellschaft (z.B.
Existenzgeld).
Mit den „Bundesarbeitsgruppen der Initiativen
gegen Arbeitslosigkeit und Armut“ (BAG) wurde Ende der
Achtziger Jahre der Versuch unternommen möglichst alle
Strömungen der Initiativen in einem Netzwerk zusammenzufassen,
um gemeinsame Erfahrungen auszutauschen (auch mithilfe der Gründung
einer überregionalen Arbeitslosenzeitung „Quer“, die
noch heute in Oldenburg herausgegeben wird) , sowie Strategien und
Aktionen auf Bundesebene entfalten zu können. Dies funktionierte
eine gewisse Zeit relativ gut:
Initiiert durch erwerbslose
Frauengruppen wurde im Juni 1987 unter dem Motto "Wir brauchen
mehr als Luft und Liebe. Erwerbslose Frauen fordern eigenes Geld ohne
Anrechnung der Einkommen von Eltern, Ehemännern und Partnern bei
Arbeitslosen und Sozialhilfe. Weg mit der Bedürftigkeitsprüfung"
ein bundesweiter Aktionstag ausgerufen und 1988 in Düsseldorf
der 2. Bundeskongress der Arbeitslosen („Wir kämpfen um
das, was wir brauchen“) veranstaltet.
Eine bundesweite
Aktionswoche gegen die Bedürftigkeitsprüfung schloss sich
an. Zudem wurde der internationale Aspekt des Kampfes gegen
Arbeitslosigkeit verdeutlicht und in Form verschiedener europäischer
Treffen und Beteiligungen an Demonstrationen umgesetzt.
Einen
weiteren Bundeskongress hat es anschließend nicht mehr gegeben,
da sich einige der beteiligten Initiativen und Organisationen ihren
eigenen Netzwerken widmeten. Bereits 1985 war die
„Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen“
(KOS) entstanden, die nur noch sporadisch in den BAG’s
mitarbeitete. Im März 1990 gründete sich, nach dem Fall der
Mauer, im Osten Deutschlands der „Arbeitslosenverband“
(ALV), dessen anfängliche Marktgläubigkeit und
Lohnarbeitszentriertheit, nach jahrelanger Arbeitslosenarbeit unter
neoliberalen Bedingungen, einer kapitalismuskritischeren Sichtweise
wich. Konnte der ALV (der im BAG-Zusammenhang mitarbeitete), dank
„großzügiger“ Mittel aus dem
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmentopf (ABM) Ost, in fast allen
größeren Städten Beratungsstellen und Treffpunkte
bilden, brach diese Struktur einige Jahre später, mit dem
politisch gewollten Austrocknen von ABM, zu großen Teilen in
sich zusammen.
Eine der letzten BAG-Aktionen, im Rahmen der
Kampagne „Sabotiert die Zwangsarbeit“ (die sich gegen
erzwungene Arbeits- und Ernteeinsätze von
SozialhilfebezieherInnen und Erwerbslose richtete), im April 1994
bestand darin, faules Gemüse vor der Zentrale der
„Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeber“ in Köln
abzuladen.
„Stummer“ Protest und
Aufbegehren
Die beiden Arbeitslosenkongresse führten zu
einem Gründerboom von Initiativen. Bis zu 1000 Initiativen soll
es in den Neunziger Jahren gegeben haben (heute wird von 500 bis 700
Gruppen ausgegangen, inklusive von Erwerbslosengruppen oder
-ausschüssen bei ver.di, der IG-Metall oder dem DGB). Hier liegt
auch eine unverkennbare Stärke des potentiellen Widerstandes; es
existiert eine Struktur von Gruppen, Initiativen, Zentren und
manchmal nur Einzelpersonen, die über Jahre gewachsen ist (trotz
einzelner Verluste von Treffpunkten) und in der Lage ist in
bestimmten Momenten aktiv zu werden oder Unterstützung für
aufkeimende Proteste zu leisten.
Widerständige Aktivitäten
von Erwerbslosen finden sich zu diesem Zeitpunkt in Form von
alltäglicher Resistenz, im individuellen Widersetzen. Dieser
„stumme“ Protest ist es, der am häufigsten die
Protestwirklichkeit der Armutsbevölkerung widerspiegelt. Er
stellt oft den einzig erkennbaren Weg dar, sozialer Ungerechtigkeit
entgegenzutreten und bewahrt darüber hinaus in selbstbewussten
„listigen“ Handlungen einen gewissen Grad an menschlicher
Würde. Daneben existiert eine eruptive Widerständigkeit,
die kaum kalkulierbar plötzlich öffentlich sichtbar wird,
wie z.B. auf der großen Demonstration der 100 000 im November
2003 in Berlin und am Beispiel der Montagsdemonstrationen.
Trotz
dieser Tendenzen herrscht der „stumme Protest“ vor, z.B.
in Form des individuellen verbalen Protestes, das Durchlavieren des
Einzelnen, Schimpfen bis hin zu Handgreiflichkeiten auf dem Amt, die
sich höchst selten in Form kollektiver Normverletzung ausdrückt
(wie z.B. die Zurückweisung und Persiflierung von
arbeitsethischen Grundsätzen durch „Glückliche
Arbeitslose“ oder spektakuläre Aktionen durch Gruppen von
„Überflüssige“). Aber auch die nur
personengebundene Widergesetzlichkeit kann in ihrer Summe
öffentlichkeitswirksam sein (z.B. die Anzahl der Widersprüche
oder Klagen vor dem Sozialgericht oder die Verhinderung der
Zwangsernteeinsätze von Erwerbslosen durch deren individuelle
Resistenz).
Durchgehend erfolgreicher Widerstand über Jahre
lässt sich deshalb aus der Beratungspraxis erkennen und betrifft
die Gegenwehr auf rechtlicher Ebene (so z.B. die Behandlung der
Regelsatzhöhe im Arbeitslosengeld II durch das
Bundesverfassungsgericht).
Versuche, den individuellen Widerstand
in kollektiven Protest einzuleiten, hat es immer wieder gegeben,
entweder durch Kampagnen von bundesweiten Erwerbslosenorganisationen
(z.B. der Bundesarbeitgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen BAG-SHI
oder der Euro-Marsch Gruppen, die sich 1997 gründeten und
Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung
und Ausgrenzung durch europäische Länder organisierten)
oder durch Koordinationsaktivitäten derselbigen (oftmals auch
beflügelt durch Proteste im Ausland, z.B. in Frankreich und
Argentinien). Genannt seien beispielhaft die bundesweite
Demonstration des Aktionsbündnisses "Aufstehen gegen
Sozialleistungskürzungen" am 04.11.1995 in Bonn mit 3000
TeilnehmerInnen, der Beginn der Jagoda-Tage am 05.02.1998, mit
Aktionen und Demonstrationen, die jeden Monat parallel zur
Verkündigung der Arbeitslosenzahlen stattfanden. Initiiert durch
die KOS (und unterstützt durch die anderen Erwerbslosengruppen)
handelte es sich dabei um die erste auf Kontinuität aufbauende
Aktionsreihe (neben vielerlei Aktivitäten wurden auch
kurzfristig Arbeitsämter besetzt und durch eine Dachbesetzung
der SPD-Zentrale in Bonn ein Gespräch mit dem damaligen
Arbeitsminister Riester erzwungen). Noch bis ins Jahr 2001 wurde
diese Form des Protestes von gewerkschaftlichen Initiativen genutzt.
Am 15.04.1999 begann der Kampagne „Champagner 99“
durch die von unabhängigen Gruppen gegründete
„Bundesarbeitsgemeinschaft/Erwerbslose (BAG-E)“. Zwischen
April und Mai 1999 sollte ultimativ versucht werden durch den Besuch
bzw. die Besetzung lokaler SPD-Parteibüros und die daran
anschließende 24stündige Besetzung von Arbeits- oder
Sozialämter, die Bundesregierung zu direkten Verhandlungen mit
Erwerbslosen zu zwingen. In einigen Städten waren die
Aktivitäten vielversprechend, eine Massenwirkung erlangten sie
aber nicht.
Die wenig erfolgreiche Praxis der
Erwerbslosenverbände führte am 15.02.2000 in Hannover zu
einem Treffen aller Bundesverbände und einiger
Landeskoordinationen. Neben der regelmäßigen Einrichtung
eines „Runden Tisches der Erwerbslosenverbände“ (der
noch heute existiert, aber seit längerem seine koordinierende
Funktion eingebüßt hat), erfolgte eine gemeinsame
Strategiekonferenz und eine bundesweite Kampagne „Hände
weg von der Arbeitslosenhilfe“. Mittlerweile beschleunigte die
rot/grüne Bundesregierung mit ihrer Vorbereitung und
Durchführung der Hartz-Gesetze die Protestbereitschaft der
Betroffenen. In Städten aber auch auf dem Land gründeten
sich Anti-Hartz-Gruppen, die neben Aufklärungsarbeit zu
mannigfaltigen Widerstandsaktionen übergingen. Genannt seien
nur: Demonstrationen vor Parteitagen der Regierungsparteien,
Besetzungsaktionen bei Leiharbeitsfirmen, in Jobcenters, in
Personal-Service-Agenturen, Aktionen gegen Tarifverhandlungen
zwischen Gewerkschaften und Leiharbeitsvereinigungen, im Arbeitsamt,
Demonstrationen von wütenden Müttern (wegen gestrichener
Umschulungsmaßnahmen), Demonstrationen von Obdachlosen,
kollektives Schwarzfahren, e-mail und Telefonaktionen bei
Bundestagsabgeordneten, aber auch Anschläge verschiedenster Art
auf Arbeits- und Sozialämter). Auf einer Aktionskonferenz im
August 2003 organisierten u.a. die Anti-Hartz-Gruppen eine
bundesweite Demonstration in Berlin („Alle gemeinsam gegen
Sozialkahlschlag!“). Mit 100 000 TeilnehmerInnen übertraf
die Anzahl der DemonstrantInnen im November 2003 alle Erwartungen und
verdeutlichte wie massenhafter Sozialprotest aussehen kann. Besonders
das Verhältnis zwischen Erwerbslosengruppen und Gewerkschaften
veränderte sich in dieser Zeit. Letztere hatten die
Protestbereitschaft unterschätzt und sahen sich von den
Aktivitäten der Erwerbslosen überrascht, zumal dort das
politische Prestige der Gewerkschaften, spätestens seit ihrer
aktiven Unterstützung der Hartz-Gesetze arg gelitten hatte.
Plötzlich mussten, zumindest in dieser Phase,
Gewerkschaftsführer mit Erwerbslosenvertretern verhandeln, wer
auf welcher Aktionskonferenz oder Kundgebung reden durfte. Der Druck
der Strasse hatte auch hier gewirkt.
Einige Monate später
begehrten im Osten Deutschlands die Erwerbslosen auf. Dem Aufruf von
Wenigen zu so genannten Montagsdemonstrationen folgten auf dem
Höhepunkt am 30.08.2004 in rund 200 Städten (auch im
Westen) über 200 000 Personen. Aus diesen Aktivitäten
gingen neue Gruppen, wie das „Aktionsbündnis
Sozialproteste“ (ABSP) und ein bundesweite Delegiertentreffen
von Montagsdemonstrationen (die der „Marxistisch-Leninistischen
Partei Deutschlands“ (MLPD) nahe stehen) hervor. Erwähnt
sei noch die bundesweite Initiative „Agenturschluss“ und
deren Kongresse „Die Kosten rebellieren“, die den
Zusammenhang von Erwerbslosen, MigrantInnen und prekär
Beschäftigten herzustellen versuchten und Handlungs- und
Organisationsmöglichkeiten diskutierten und umsetzten, so z.B.
auf einer Demonstration im November 2004 vor der Bundesanstalt für
Arbeit in Nürnberg und im Januar 2005 mit der Belagerung von
Arbeitsämtern. Aus dieser direkten Form der Konfrontation
entstanden dann später bundesweite Zahltagsinitiativen (soziale
Rechte werden direkt und gemeinsam im Arbeitsamt eingefordert).
Von erfolgreichen
Strategien des Erwerbslosenprotestes, im Sinne der öffentlichen
Wahrnehmung und der Verbesserung der sozialen Situation, kann dann im
Allgemeinen gesprochen werden, wenn Aktionen überraschend und
unplanmäßig verliefen, oder wenn Aktivitäten in einem
breiten Bündnis stattfanden, mit entsprechender Repräsentanz
der eigenen Ansprüche und Forderungen.
In Sinne von
öffentlicher Präsenz waren Erwerbslosengruppen erfolgreich,
bezüglich der Verbesserung ihrer sozialen Situation allerdings
nicht. Keines der angegriffenen Sozialgesetze konnte verhindert
werden!
Sozialprotestbewegung
formiert sich
Nach
den Erfahrungen der punktuellen Massenproteste zwischen 2003 und 2006
lassen sich verschiedene Entwicklungsschwerpunkte erkennen.
Durchgesetzt hat sich zum jetzigen Zeitpunkt der legalistische,
individuelle Protest (Klagen etc.), die Hoffnung auf regionale
Protestbündnisse, die kontinuierlich und machtvoll auftreten,
hat sich bislang nicht erfüllt. Dennoch steht die soziale Frage,
als zentrales politisches Kampffeld der nächsten Jahre, auch auf
der Agenda anderer sozialer Bewegungen. So entwickelte sich eine
Perspektive, in der Erwerbslose mit anderen sozialen Protestgruppen
kooperieren. Dezidiert geht es dabei nicht nur um Arbeitslosigkeit,
sondern um Problembereiche, die über diese Thematik
hinausreichen (Klima, Luxussanierung, globale soziale Rechte usw.).
Daraus könnte sich eine wichtige Protestkultur entwickeln, die
über den Rechtsweg hinausgeht.
Auch fast drei Jahrzehnte nach
dem ersten Arbeitslosenkongress bleibt es für den
Erwerbslosenprotest lebenswichtig, das Initiativenspektrum vor Ort
auszubauen und weiterhin eigene selbstorganisierte Räume zu
schaffen. Sie sind die Grundlage jeglicher politischer Arbeit. Hinzu
kommt die Kampagnentätigkeit, verbunden mit der rechtlichen
Beratungsarbeit und der Setzung eigener Inhalte. Sie umfasst sowohl
die spontane Radikalität (Umsonst einkaufen, Ermittler bekommen
unangemeldeten Hausbesuch, Aktionen gegen Anwerbeversuche der
Bundeswehr im Arbeitsamt usw.), wie auch auf Kontinuität und
Bündnisfähigkeit gesetzte Aktionen (z.B.
Ein-Euro-Job-Spaziergänge, Kampagne „Keiner muss allein
zum Amt“, Kampagne gegen Zwangsumzüge, Kampagne gegen
Kinderarmut und für die Erhöhung der Regelsätze,
Zahltagsaktionen, Kampagne für ein Sanktionsmoratorium). Ohne
die über Jahre erworbene Beratungsqualität vieler Zentren
und Initiativen wäre es kaum zu einer solchen erfolgreichen
Widerspruchs- und Klagewelle, insbesondere nach 2005, im Zusammenhang
mit der Umsetzung des Sozialgesetzbuches II gekommen. Und schließlich
gehört die Auseinandersetzung um ein bedingungsloses
Grundeinkommen, als Alternative zum kapitalistischen Arbeitsregime,
zu den wichtigsten Diskussionsansätzen in den letzten Jahren und
dies nicht nur in Deutschland. Daran trugen Erwerbslosengruppen mit
ihrem Konzept Existenzgeld maßgeblichen Anteil. Sie gründeten
auch zusammen mit anderen Interessierten 2004 das Netzwerk
Grundeinkommen.
Ob sich eine starke Sozialprotestbewegung in den
nächsten Jahren entwickeln wird, ist kaum vorhersehbar. Der
Versuch der Zusammenarbeit von Erwerbslosengruppen, autonomen
Gruppen, Kernkraftgegnern, Friedensaktivisten, Studenten,
SchülerInnen, Gewerkschaftslinken, attac u.a. gegen eine
reaktionäre und ausgrenzende Sozialpolitik steckt noch in den
Anfängen, erkennbar an den Demonstrationen 2006 („Schluss
mit den ‚Reformen’ gegen uns“) und 2009 („Wir
zahlen nicht für eure Krise!“). Inwieweit sich die in
großen Teilen der Bevölkerung angestaute Wut in
kollektiven Protest umsetzen wird ist ebenso unklar, zumal wie der
Soziologe Klaus Dörre feststellt, es in Deutschland eine lange
Tradition gibt soziale Konflikte in normierten Bahnen ablaufen zu
lassen. Dennoch ist er optimistisch: „Wenn in Deutschland mal
Protest ausbricht, dann wird er auch sehr gründlich gemacht.
Unter den organisierten Arbeitslosen herrscht bereits sehr radikale
Stimmung.“ (Berliner Zeitung,
14.04.2009)
Literaturliste
Nowak, P. (Hg.): Zahltag.
Zwang und Widerstand: Erwerbslose in Hartz IV, Münster
2009
Rein, H../Scherer, W.: Erwerbslosigkeit und politischer
Protest, Frankfurt 1993
Reister, H./Nikolaus, K./Klippstein, N.:
Gesellschaftliche Organisationen und Erwerbslose, Berlin 2000
Roth,
R./Rucht, D. (Hg.): Die Sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945,
Frankfurt 2008
Wolski-Prenger, F.: Arbeitslosenprojekte zwischen
sozialer Arbeit und sozialer Bewegung, Frankfurt
1989
www.erwerbslos.de
www.erwerbslosenforum.de
www.rhein-main-buendnis.de
www.labournet.de
www.bag-shi.de